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Wilma Schepers und Ine van Liempd stellen das Heft vor

In dem Maße, wie Kindern der Zugang zur Natur verwehrt wird, wächst die Bedeutung von Kindertageseinrichtungen und Schulen. Dort gelangt die Natur wieder zu Leben – wenn auch nur künstlich – in Form des den Kindern verfügbaren Außengeländes.


Es ist lange her, dass wir Menschen in der Natur und im Einklang mit ihr lebten wie die Tiere: auf der Suche nach Nahrung, nach einem Schlafplatz oder einem Versteck vor Angreifern oder Unwettern. Die Menschen entwickelten sich zu intelligenten Wesen. Sie lernten die Natur zu nutzen. Aus Unterständen wurden Hütten und Häuser. Damit einher nahm die Bedeutung der Jagd ab, die der Landwirtschaft zu. Als soziales Lebewesen sucht der Mensch Sicherheit durch die Gegenwart anderer, also gründete er Dörfer und Städte.

Unser Leben entfernte sich immer weiter von der Natur. Sie umgibt uns nur noch kontrolliert als Garten, Park oder Freizeitstrand, als landwirtschaftlich genutztes Feld, als Wanderwege in Wäldern oder Bergen. Die Schönheit der Natur betrachten wir durch die Fenster unserer Autos.

Unsere Einstellung zur Natur ist ambivalent. Wir bewundern und romantisieren sie, gleichzeitig aber distanzieren wir uns von ihr, von Hitze und Kälte, Regen und Schnee, von Wind, Unkraut, Fliegen, Moskitos oder Mäusen. Wir schützen uns vor »Schmutz« wie Sand und Schlamm, verrottenden Pflanzen, toten Tieren und Fäkalien. Wir würden, wenn wir könnten, alles Gefährliche aus der Natur verbannen. Aus Angst vor Zecken wird der Waldspaziergang gestrichen. Regen? Drinnen drohen keine schmutzigen Schuhe. Ab und zu überraschen uns gewaltige Naturkatastrophen wie Überschwemmungen, Erdbeben, Aschewolken. Sie ängstigen uns. Dann bauen wir höhere Deiche und hoffen das Unkontrollierbare der Natur einzudämmen.

Wir in den westlichen Gesellschaften profitieren von dieser Entwicklung. Es gibt Nahrung, ein Dach über dem Kopf und Krankheitsvorsorge. Vieles haben wir gewonnen, doch auch einiges verloren. Vermutlich liegt unser größter Verlust darin, dass wir ohne die modernen Geräte uns nicht mehr in der Natur heimisch fühlen. Und je mehr die Erwachsenen sich von der Natur entfernen, je weniger werden die Kinder ermutigt, sich ihr zu nähern. Das ist die logische Konsequenz aus unserem Lebensstil.

Darum lehren nur noch wenige Eltern ihre Kinder, Bäume, Pflanzen und Tiere zu erkennen. Kinder lernen nicht mehr, wie ein Flüsschen überquert wird. Viel zu gefährlich! Und warum sollten sie das lernen, denn als Erwachsene benötigen sie diese Fertigkeiten doch nicht. Tatsächlich, sind sie einmal erwachsen, müssen sie ihr Boot nicht stromaufwärts bringen, zwischen Felsen hindurch, um dort zu angeln.

Das alles sind nur Beispiele und von grundsätzlicher Notwendigkeit ist keine der genannten Fertigkeiten. Wir lehren unsere Kinder selbstverständlich wichtigeres für ihr späteres Leben. Doch das hat Konsequenzen. Diese neue Ausgabe von »KINDER in Europa« handelt davon und auch von den Möglichkeiten zum Gegensteuern durch andere Formen der Betreuung, des Aufwachsens, von Schule und Bildung für (junge) Kinder. Sie handelt vom Spiel im Freien – vom freien Spiel draußen, auf abenteuerlichen Spielplätzen oder in freier Natur.


Kinder lernen von der Natur

Erwachsene strukturieren die Welt der Kinder. Mit Unterstützung der Erwachsenen eignen sich Kinder die Strukturen an, um überleben zu können. Für jedes Kind ist die Aneignung der Welt, auch der modernen, sowohl Spiel als auch Herausforderung. Doch die Entdeckung der Welt unterliegt Einschränkungen: was Kinder für sich erobern, wurde vorher gestaltet. Das tatsächliche Überraschungsmoment ist gering, und die Freiheit für spielerisches Entdecken begrenzt. Wie chaotisch und komplex die Welt für Kinder erscheinen mag, sie wurde von Erwachsenen strukturiert und geformt.

Es macht einen Unterschied, ob man in der Natur lernt oder von ihr. Die Natur ist launisch, nicht vorhersagbar und täglich anders. Auch in der Natur erkunden Kinder die Welt mit Anleitung von Erwachsenen, denn durch Versuch und Irrtum zu überleben lernen, wäre ein heikles Unterfangen. Was die Natur den Kindern jedoch ganz nebenbei zu entdecken bereit hält, ist ihre verborgene Harmonie. Modern ausgedrückt: die Natur ist nicht digital konstruiert, sondern analog. Nicht immer sind Ursache und Wirkung direkt und eindeutig zu verstehen, Vorstellungen über Möglichkeiten oder Zufälle scheinen oft angemessener.

Klar, in der Realität ist der hier gezeigte Kontrast gar nicht so scharf. Doch wenn wir auf den Unterschied achten, spüren wir, was die Natur Kindern bietet und was wir manchmal vergessen. Zum Glück finden wir ja noch einiges an »Natur« in unserem modernen, städtisch geprägten Leben. Und, auch das ist ein Glück, können wir sogar Stadtkindern eine »natürliche Umwelt« zum Spielen bieten: gute Spielplätze zum freien und fantasievollen Entdecken von »Natur«.

Dieser Aspekt des Themas von »KINDER in Europa« wird durch unterschiedliche Autorinnen und Autoren beleuchtet. Frederika Mårtensson berichtet über Forschungsergebnisse, die belegen, dass das Spiel von Kindern viel variantenreicher ist, wenn es draußen in einer unstrukturierten Umgebung stattfindet. Freies unstrukturiertes Spiel lehrt die Kinder vieles über sich selbst, und zugleich stärkt es die Bindungen zu Spielkameraden und fördert Kreativität.

Die De Mameli Schule in Rom beweist, dass man das Schulgelände auch in einer städtischen Umgebung ausdehnen kann, wenn die Schule mit Eltern, Nachbarn und Geschäftsleuten kooperiert. Sie alle nehmen die Kinder regelmäßig auf Ausflüge in den Stadtteil mit und erweitern dadurch das »Schulgelände«. Dadurch erwerben die Kinder neues Wissen und Erfahrungen. Oder wie Carme Cols es in ihrem Artikel über eine Schule in Cornellà de Llobregat ausdrückt: »Wir nehmen alles als Grund, rauszugehen. Die Kontinuität der Ausflüge verbessert die Beziehungen der Schule mit dem Drumherum.«

Am Rande dänischer Städte wird ein etwas strikterer Weg beschritten, die Fesseln von Schulen zu dehnen. Claus Jensen beschreibt, wie Kindertageseinrichtungen und Schulen sich außerhalb ansiedeln. Die Kinder werden mit Bussen dorthin gebracht, wo manche Tageseinrichtung nur Freigelände zur Verfügung stellt und eine Hütte zum Unterschlupf bei schlechtem Wetter.



Kinder fühlen sich wohl in der Natur

Menschen sind für ein Leben in der Natur konzipiert. Unser Verdauungssystem ist auf Früchte, Nüsse und Getreide eingerichtet. Und wir sind auch körperlich auf Anstrengungen vorbereitet, uns zu ernähren. Wir gedeihen durch regelmäßigen Wechsel zwischen Mühen und Ruhe und wenn wir unsere geistigen und körperlichen Anstrengungen ausbalancieren. Unser moderner Lebensstil ist jedoch nicht auf unsere körperlichen Bedürfnisse abgestimmt. Den Preis, den wir dafür bezahlen, kennen wir nur zu gut. Wir leiden unter Zivilisationskrankheiten, von denen – so traurig es ist – auch immer jüngere Menschen betroffen sind. Unsere Kinder sind zu fett, aber wenn ihr energisches Verhalten uns stört, dann etikettieren wir es sofort mit ADHS. Nichtsdestotrotz bleiben wir in der Verantwortung für die Kinder. Wir müssen darauf achten, was sie für ihr Wohlbefinden brauchen.

Das Spiel im Freien bietet Kindern Gelegenheit in größerer Übereinstimmung mit ihren körperlichen Bedürfnissen aufzuwachsen. Spielen sie draußen – schaukeln, rennen, Kräfte messen und Ballspiele – können sie Energie verbrauchen. Sie lernen ihren Körper kennen, lernen sich anzustrengen und zu erholen und wie gut man sich fühlt, wenn man im Gras liegt und um Atem ringt.

Viele Forschungsergebnisse belegen, dass das Spiel im Freien und in der Natur den Kindern Ausgeglichenheit und Wohlbefinden zurück gibt. Eine Studie verglich zwei Gruppen: eine spielte täglich mindestens zwei Stunden in einem ganz »normalen« Freigelände mit Klettergerüst, Sandkasten und ebenem Spielfeld; die andere hielt sich täglich länger draußen als drinnen auf, spielte in natürlichem Umfeld mit Bäumen, Felsen, schroffem Untergrund und Seilen, um auf die Bäume zu klettern. Die Kinder der zweiten Gruppe waren seltener krank; sie zeigten auch bessere Werte in Konzentration und Grobmotorik. [Grahn 1997]

Unterschiede zwischen Mädchen und Jungen beeinflussen ihr Spiel im Freien, wie Erasmia Zotous Beitrag aus Griechenland zeigt. Dies sollte bei der Planung von Spielgelände berücksichtigt werden. Dagfinn Krog plädiert in seinem Artikel für verschiedene Maßnahmen, damit Kinder öfter draußen spielen können. Das Gelände sollte nicht nur verschiedene Anregungen bieten, Kinder sollten auch zu Fuß oder per Rad zur Schule gelangen können. Eltern sollten bestärkt werden, öfter mit ihren Kindern rauszugehen. Biserka Šikić aus Kroatien gibt weitere Tipps, wie etwa einen einwöchigen Ausflug zur Naturerkundung.


Die Natur versorgt Kinder mit Selbstvertrauen

Natur ist nicht idyllisch. Sie ist auch gefährlich. Furcht geht mit Gefahr einher, sie regt uns an, uns zu schützen. Man muss lernen, mit Angst umzugehen. Nicht jede Gefahr lässt sich kontrollieren. Die Gefahr, von einem Baum zu fallen, kann man durch Kletterübungen kontrollieren; wer schwimmen gelernt hat, geht selten unter. Das Vorbild der Erwachsenen ist wichtig, wenn es um Gefahrenerkennung und -kontrolle geht. Jeder Erwachsene wird ein Kind von unkontrollierbarer Gefahr fernhalten, um es zu schützen. Doch grundsätzlich sollen Kinder den Umgang mit kontrollierbarer Gefahr lernen. Straßenverkehr ist ein gutes Beispiel: ein Zweijähriges lässt niemand allein auf der Straße spielen; ein Vorschulkind darf nur draußen spielen, wenn es verspricht auf dem Gehsteig zu bleiben, es lernt außerdem, nach rechts und links zu schauen, wenn es eine Nebenstraße allein überqueren soll. So soll es sein, so ist es auch, denn Erwachsene wissen, wie man sich im Straßenverkehr verhält. Sie bringen es den Kindern nach und nach bei. Wenn jedoch die Erwachsenen selbst Angst haben und sie nicht steuern können? Dann lernen auch die Kinder nicht mit Angst umzugehen.

Das scheint um sich zu greifen im Zusammenhang mit Spiel im Freien. Sorge und Ungeübtheit leiten Erwachsene bei der Erziehung. Die Kinder selbst, besonders wenn sie jung sind, lieben jedoch das Spiel im Freien. Tatsächlich lässt sich draußen ja auch mehr ausprobieren und erkunden als drinnen. Die Fantasie kann schweifen, Stöcke, Blätter, Sand und Wasser können genutzt werden, Lärm stört nicht. Im Wortsinn und im übertragenen Sinn gibt es draußen einfach mehr Spielraum. Den Erwachsenen muss man helfen, ihre Sorgen und Ängste zu überwinden – nicht den Kindern.

Das ist überall dort wirklich dringend nötig, wo das Wort »Sicherheit« eine zentrale Position im Denken von Erwachsenen, Experten und Politikern einnimmt, die denken, dass Natur ja irgendwie romantisch ist, doch vor allem ist sie unsicher für kleine Kinder. Das ist wirklich traurig, weil Kinder auf Spielplätzen und in der Natur vieles lernen. Außerdem geht es ihnen besser, sie lernen Gefahren zu erkennen, einzuschätzen und dabei Selbstvertrauen zu entwickeln.

In diesem Heft schreiben sowohl Roger Prott als auch Tim Gill über das viel diskutierte Problem der Sicherheit von Kindern. Die übermäßige Betonung von Sicherheit behindert deren freie Entfaltung und ist daher grundgesetzwidrig, argumentiert Prott. Beide Autoren treten für Spielumgebungen ein, die herausfordern, stimulieren und notwendigerweise Risiken aufweisen. Sie geben Tipps für ein ausgewogenes Spiel im Freien ohne wirklich ernste Gefährdungen.

Wilma Schepers und Ine van Liempd repräsentieren »Kinderen in Europa«, die holländische Ausgabe des Magazins.
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